Sauerkraut per Post - Die Bestellung des Adolf Gairing
Diese kurze Geschichte über ein Hotel am Starnberger See, eine Postkarte und einem Zentner Sauerkraut auf seiner Reise möchte ich meinem lieben Freund Axel Thorer von BUNTE widmen, der mir diese einmalige Postkartenrarität geschenkt hat und mich so auf die Spur vieler kleiner, wunderbarer Geschichten über das Hotel Leoni und ein wenig Nachdenkliches zum Thema Zeit gebracht hat.
Es muss etwa um den 14. oder 15. Juni des Jahres 1925 gewesen sein, als Adolf Gairing feststellte, dass das Sauerkraut in der Speisekammer des “Hotel Leoni” zur Neige ging. Gairing scheint in diesem Hotel der Chef gewesen zu sein, auch wenn sich heute niemand mehr an ihn erinnert und auch die Archive nichts mehr über ihn wissen. Jedenfalls besorgte er die Einkäufe des kleinen schmucken Hotels am Starnberger See. Sofort nahm sich Adolf Gairing einen modernen, fertig frankierten Postkartenvordruck zur Hand und spannte ihn in seine Schreibmaschine (vermutlich von Adler). „Bitte senden Sie mir 1 Fass, ca. 1 Zentner 1a Sauerkraut“ schrieb er auf die Karte und gleich darunter “Achtungsvollst!” – mit einem Ausrufungszeichen. Es klingt fast ein wenig schroff!
Sauerkraut per Post - Sauerkrautlieferant A. Ballinger
Auf die andere Seite der Postkarte schrieb er die Adresse des besten 1a-Sauerkraut-Lieferanten der Stadt München auf die vorgedruckten, grünen Linien: A. Ballinger, äussere Maximilianstrasse 3. Als alles fertig getippt war, nahm er die Postkarte aus der Schreibmaschine und drückte auf beide Seiten je einen Stempel “Hotel Leoni – Starnbergersee”. Man weiss nie auf welcher Seite eine Karte gerade liegen bleibt und schliesslich will man beachtet werden. Besonders wenn es sich um eine wichtige Bestellung für ein feines Hotel und die Verpflegung seiner Gäste handelt. Danach drückte Adolf Gairing auf die Rückseite noch einen Stempel mit seinem Namen. In Schreibschrift! Er ist wohl organisiert und würde er von Hand unterschreiben, müsste er noch das Tintenfass öffnen und das Trocknen der Tinte abwarten.
Soviel Zeit hat man im hektischen Hotelgewerbe nicht. Damals schon nicht, im Jahr 1925. Sodann legte Gairing die Postkarte beiseite und wartete, bis sie am nächsten Tag vom Postboten abgeholt wurde. Dieser brachte sie in das zentrale Postamt nach Starnberg und dort wurde die Bestellkarte über “1 Fass, ca. 1 Zentner 1a Sauerkraut“ am 16. Juni 1925 abgestempelt und in die Landeshauptstadt München zu A. Ballinger weitergeleitet wo die Bestellung bearbeitet wurde.
Wenige Tage später machte sich aus dem Geschäft des A. Ballinger in München “1 Fass ca. 1 Zentner 1a Sauerkraut“ auf seinen Weg an den Starnberger See. Man könnte vermuten, dass dieses Fass mit einem Pferdefuhrwerk an den Münchner Bahnhof transportiert und dort in einen Eisenbahnwagon verladen wurde, der von einer elektrifizierten Lokomotive gezogen wurde. Denn nicht nur Adolf Gairing war ein moderner Mann der seinen Namen lieber stempelte als mit Feder und Tinte schrieb. Auch bei der Eisenbahn hatte wenige Monate vor der Sauerkrautbestellung ein moderneres Zeitalter begonnen und die Zeit der dampfenden und qualmenden Dampflokomotiven ging unweigerlich seinem Ende entgegen. Seit Februar 1925 war die Bahnstrecke München – Starnberg elektrifiziert. Rückwärts übrigens, also von Innsbruck nach Mittenwald, dann weiter nach Garmisch und zuletzt von Garmisch über Starnberg nach München.
Die Befürchtungen des Obermedizinalkollegium unter Ludwig I. von Bayern hatten sich nicht erfüllt. Niemand der mit der Dampfeisenbahn gefahren ist oder dieser dabei zusah, litt unter unfehlbar schweren Gehirnerkrankungen. Trotzdem war diese Äera vorbei und eine neue, schnellere und elektrische Zeit brach an. Aber zurück zum Sauerkraut. Als dieses in Starnberg ankam, gab es verschiedene Möglichkeiten, wie es nach Leoni an der Ostseite des Sees gelangt sein konnte.
Mit dem Pferdefuhrwerk – so die etwas romantisch verklärte Vorstellung. Vielleicht aber schon auf der Ladefläche eines motorisierten Lastkraftwagen wie sie moderne Transportbetriebe seit geraumer Zeit einsetzten. Etwas weniger romantisch, dafür aber zeitgemäß und schneller. Die dritte Möglichkeit wäre der Transport des Sauerkrautes auf einem Dampfer über den See. Waren und Güter wurden zu dieser Zeit häufig noch mit dem Dampfschiff auf dem Starnberger See transportiert und das Hotel Leoni hatte sogar einen eigenen Schiffsanleger direkt neben der Seeterrasse. Auch die meisten Hotelgäste reisten mit dem Schiff hier an. Dies war komfortabler als auf dem Landweg und aus heutigem Blickwinkel natürlich auch romantischer. Die Dampfer waren nämlich 1925 noch richtige Dampfschiffe wie der Salondampfer “Bavaria” und verbanden in einzigartiger, zeitsparender Weise die Uferorte miteinander.
Sauerkraut per Post - Die Sauerkrautreise an den See
Wenn das Sauerkraut auf dem Landweg nach Leoni gelangt ist, so hatte es, bevor es in der Vorratskammer des Hotels landete noch ein weiteres Abenteuer auf seiner Reise zu bestehen: die enorm steile Strasse, die an der Ostseite des Starnberger Sees von der Ortschaft Berg hinunter an das Seeufer nach Leoni führt. Jedem Pferdekutscher der hier hinunter musste, dürfte dabei der kalte Schweiß auf der Stirn gestanden haben. Wahrscheinlich hat nur die Aussicht auf eine kühle Maß Bier auf der Seeterrasse dem Fuhrwerkskutscher genug Mut gegeben, diesem Wagnis gelassen entgegenzusehen. Bestimmt ging damals alles gut und “1 Fass, ca. 1 Zentner 1a Sauerkraut“ erreichte rechtzeitig das Hotel Leoni um dessen Gäste zu speisen.
Sauerkraut per Post - Schöne, langsame schnelle Zeit 1925
Auf uns, die wir in windeseile eMails durch die ganze, globalisierte Welt schicken und Bestellungen einfach und schnell per Internet ausführen, wirk die Zeit, in der Adolf Gairing lebte gemütlich und langsam. Das er vorgedruckte Postkarten verwendete, seinen Namen wie auch den des Hotels stempelte und nicht mit Tinte schrieb und im Jahr der Sauerkrautbestellung die Eisenbahnlinie München – Starnberg elektrifiziert wurde spricht eine eigene, deutliche Sprache. Schon damals musst die verfügbare Zeit optimiert werden. Schon 1925 war Zeit bares Geld wert und es musste sparsam mit ihr umgegangen werden. So schön langsam und behäbig diese Sauerkrautbestellung per Postkarte auch in der heutigen Zeit auf uns wirken mag, die Gemütlichkeit die wir hineininterpretieren ist doch in gewisser Weise nur ein trügerischer Schein.